Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2022 verliehen
Plädoyer für den Dialog und den Zusammenhalt von Michael Kretschmer, Burkhard Jung, Karin Schmidt-Friderichs und Karl-Markus Gauß
Ein Recht auf Frieden – Buchstadt Leipzig setzt ein Zeichen für den Frieden: „Bei uns sterben Leute, sterben Kinder, ihre Mütter, Väter, alte Leute und junge Leute“ – Videobotschaft aus dem „Zentrum der Hölle“ von Juri Andruchowytsch
Europäische Verständigung war nie ein Selbstläufer, aber selten so dringend erforderlich wie in Zeiten des Krieges: Seit 28 Jahren würdigen die Stadt Leipzig, der Freistaat Sachsen, der Börsenverein des Deutschen Buchhandels e. V. und die Leipziger Messe mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung Persönlichkeiten, deren geistiges und literarisches Werk sich in hervorragendem Maße um das gegenseitige Verständnis in Europa und darüber hinaus verdient gemacht hat und sich zeitgeschichtlicher Zusammenhänge bewusst ist. Im Jahr des Ukraine-Krieges erhielt am 16. März der österreichische Schriftsteller Karl-Markus Gauß in der Leipziger Nikolaikirche den bedeutenden Preis für sein Werk „Die unaufhörliche Wanderung: Reportagen“ erschienen im Oktober 2020 beim Paul Zsolnay Verlag.
Karl-Markus Gauß: Über Europa und vieles mehr reden
„So lange Krieg herrscht, ist es schwierig, für Verständigung zu werben“, sagte Karl-Markus Gauß in seiner Dankesrede für den Leipziger Buchpreis der Europäischen Verständigung. Aber wann wäre es notwendiger, es zu tun? Mit diesen Worten warb der Preisträger 2022 für Verständigung und Gespräche etwa von ukrainischen sowie russischen Autor:innen auf der Leipziger Buchmesse 2023. „Damit man mich nicht vorsätzlich missverstehe: Ich meine nicht, dass man nach einem Ausgleich zwischen den Obsessionen des Aggressors und den legitimen Interessen und Anliegen der Überfallenen suchte. Aber zumindest zwischen denen, die auf der einen Seite aufbegehren, um keine Täter zu werden, und denen, die auf der anderen Seite nicht Opfer bleiben wollen, müsste sie doch möglich sein.“ Mit Blick auf die kommende Leipziger Buchmesse im März 2023 äußerte er: „Die Leipziger Buchmesse ist nicht die einzige Brücke, auf der sie sich und mit uns Ratlosen, aber nicht Gleichgültigen treffen könnten. Dafür muss es die Leipziger Buchmesse freilich weiterhin geben; auf dass sich im nächsten Jahr russische Autorinnen, die nicht trauern, weil ihr Despot den Krieg verloren hat, und ukrainische Autoren, die nicht jubeln, weil Russland selbst aus der Gemeinschaft der zivilisierten Nationen verstoßen wurde, mit uns über, naja, sagen wir über Europa reden. Und über anderes mehr.“ Schließlich, so sagte Karl-Markus Gauß an anderer Stelle seiner Rede sei die Leipziger Buchmesse „die Messe, deren nicht zu geringster Verdienst es ist, die realen und die imaginären Grenzen, die durch Europa schneiden, in der Literatur aufzuheben… .“
Michael Kretschmer: Aus dem Morden lernen
Zu Beginn seiner Rede sprach Michael Kretschmer, Ministerpräsident des Freistaates Sachsen sichtlich bewegt von seinem Besuch in der neuen Flüchtlingsunterkunft auf der Leipziger Messe kurz vor der Preisverleihung: „Ich traf dort Menschen, die vor 21 Tagen noch ein ganz normales Leben hatten und dann brach alles zusammen.“ Die Souveränität und Freiheit der Menschen in der Ukraine sei nicht verhandelbar. Russland müsse sich zurückziehen. „Wir sehen, wie gefährdet unsere Freiheit ist und wie wenig selbstverständlich sie ist“, sagte der Ministerpräsident. Doch um die Freiheit zu verteidigen, immer wieder neu zu verteidigen, müsse man stark sein. „Das ist es, was wir aus dem Morden lernen“, so Michael Kretschmer weiter. Wichtig sei, dass Europa zusammen bleibe. Auch insofern sei Karl-Markus Gauß als Preisträger des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung eine exzellente Wahl, denn er habe unterschiedliche Mentalitäten und Interessen innerhalb Europas sichtbar gemacht. „Wenn wir nicht übereinander, sondern miteinander reden, werden wir die Kraft haben zusammenzubleiben“, meinte der Ministerpräsident. Städtepartnerschaften und Kontakte zur Zivilgesellschaft in Russland seien dringend notwendig.
Burkhard Jung: Wir haben es gewusst und beklagt
Von Karl-Markus Gauß können wir lernen, wie es an den Rändern Europas aussehe, was das für diese Länder bedeute – und vor allem, was wir daraus ersehen können, erklärte Burkhard Jung, Oberbürgermeister der Stadt Leipzig in seiner Rede. Er habe einige Buchpreise zu Eröffnungen der Buchmesse hier in Leipzig mit verliehen, an Menschen aus Europa, an Russen und Ukrainer. Bein Nachblättern in deren Dankesreden habe er konsterniert festgestellt, „dass sie es gewusst haben, und dass wir es schon beklagt haben, 2006, als wir Juri Andruchowytsch und 2019, als wir Mascha Jessen diesen Preis verliehen. Wir haben ihn sehr gut gekannt, den Willen und die Bestrebungen der Ukraine, sich dem zu entziehen, den Willen nach Selbständigkeit und Anschluss an die freie und demokratische Welt Europas.“ Schon 2006 habe ein sehr ergriffener Juri Andruchowytsch in seiner Dankesrede davon gesprochen. „Und von der Vorstellung, Russland würde nach den Umbrüchen der 90er-Jahre ganz automatisch eine liberale Demokratie werden, heilte uns Mascha Jessen in ihrer Rede 2019 sehr eindrücklich“, sagte der Oberbürgermeister, der Kiewer Partnerstadt. „Daher ist es so immens wichtig, dass wir nicht nachlassen, uns davon erzählen zu lassen, uns einzufinden in andere Länder und Menschen, uns Geschichte und Geschichten nicht nur erzählen zu lassen – sondern auch willens und in der Lage sind, sie zu verstehen.“ Wir erlebten gerade ein Europa, das sich als Gemeinschaft einig sei, in der unbedingten Unterstützung eines Landes, einer Region, die eben nicht nur zeigt, woher wir als freie demokratische Gesellschaft kommen, sondern auch, wohin der Weg führen könne, betonte Burkhard Jung.
Karin Schmidt-Friderichs: Literatur baut Brücken
Die Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Karin Schmidt-Friderichs, lobte in der Nikolaikirche den Preisträger Karl-Markus Gauß als Autor, der „sensibel und detailliert aufzeigt, wie ziseliert Geschichte geschrieben wird“. Ein Autor, der es verstehe, den Menschen ein Europa nahe zu bringen, das eben mehr sei als ein politisches Konstrukt, das erst mit Leben gefüllt werden müsse. Europa sei die Vielfalt an Geschichten, an Begegnungen, an Menschen, die das Leben in Europa ausmachen. „Sie machen es reich“, erklärte die Vorsteherin weiter. Dennoch stehe sie auch traurig, sprachlos und unsicher in der Leipziger Nikolaikirche. Literatur baue Brücken, wo ansonsten Gräben ausgehoben werden. „Die Buchbranche braucht die Leipziger Buchmesse, sie braucht sie als Plattform für die Neuerscheinungen und für die Debatte. Und wir alle brauchen Buchmessen als Orte, an denen Demokratie, Freiheit und der Friedensgedanke hochgehalten werden“, so Karin Schmidt-Friderichs in der Nikolaikirche Leipzig. „Lassen Sie uns weiterhin das freie Wort nutzen, um für Frieden und Freiheit einzutreten – und unsere Stimme zu erheben gegen Krieg, Gewalt und Ungerechtigkeit.“ Denn, was könnte wichtiger sein, als hier in Leipzig für Meinungsfreiheit und Vielfalt einzustehen. Und dazu gehöre auch ein „Nein“: „Wir werden russische Autor:innen nicht boykottieren, sondern all jenen Gehör verschaffen, die Putin lieber weg sperren und mundtot machen würde“, erklärte Karin Schmidt-Friderichs. „Lassen Sie uns die Menschen in Russland nicht mit den Machthabern in Russland verwechseln. Lassen Sie uns auf dumpfe Provokation aus Putins Lager nicht affekthaft und generalisierend reagieren.“ Zum Schluss ihrer Rede rief die Vorsteherin auf Deutsch, Ukrainisch und Russisch dem Publikum zu: „Die Ukraine hat das Recht auf Frieden!“
Daniela Strigl: Die sieben Sachen des Wanderers
… überschrieb Daniela Strigl ihre Laudatio auf Karl-Markus Gauß. „Als Forscher und Reporter nicht minder denn als Leser, Denker und Schriftsteller ist Karl-Markus Gauß ein Wanderer, und ich möchte hier gewissermaßen seinen symbolischen Rucksack in Augenschein nehmen, seine Siebensachen oder, wie man in Österreich auch sagt, Siebenzwetschken, mit deren Hilfe er zuverlässig seinen Bestimmungsort erreicht, auch wenn es vordringlich nicht darum geht“, erläuterte die österreichische Literaturwissenschaftlerin und -kritikerin. Sieben Elemente gehören, so Daniela Strigl, in den Rucksack des diesjährigen Preisträgers: Neugier, Trittsicherheit, Schwindelfreiheit, leichtes Gepäck, festes Schuhwerk, Kompass und Kondition. Der literarische Forschungsreisende zeige, dass auch das Abgelegte und das Abgelegene nicht außerhalb der Geschichte existiere. Der Stadtwanderer bestaune nicht nur die restaurierten Fassaden, er betrete beherzt auch den Hinterhof der Gesellschaft. „Karl-Markus Gauß ist als Einzelgänger unterwegs, er kommt ohne Seilschaft aus. Auch deshalb setzt er auf leichtes Gepäck: keine ehernen Wahrheiten, kein Pathos, kein Denkverbot, keine Vorurteile“, so die Laudatorin weiter. „Karl Markus-Gauß’ Gang durch Europa orientiert sich an dessen Rändern, an dessen Peripherie. Europa, das ist Paris, London, Berlin, Wien, Prag, Moskau, aber eben auch Odessa, die Zips in der Slowakei, die Heimat der Sorben in Ostdeutschland, Kalabrien mit der Volksgruppe der Arbëreshë.“ Die Mühen der Ebene entmutigen diesen Wanderer nicht und auch nicht die Durststrecken – daher wünschte Daniela Strigl in Leipzig abschließend „dem unaufhörlichen Wanderer andauernde Ausdauer auf seinem Weg!“
Friedensaktion im Vorfeld: Ein Recht auf Frieden
Aus Anlass des fortdauernden Krieges in der Ukraine hatten die Initiatoren des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung – die Stadt Leipzig, der Freistaat Sachsen, der Börsenverein des Deutschen Buchhandels e. V. und die Leipziger Messe – gemeinsam mit Evangelisch-Lutherische Kirchgemeinde St. Nikolai Leipzig zur Solidarität mit der Ukraine aufgerufen. An der Aktion unter dem Titel „Recht auf Frieden“ beteiligten sich zahlreiche Menschen, um die Friedensbotschaften von Oberbürgermeister Burkhard Jung und Peter Kraus vom Cleff, Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels e.V., zu unterstützen. Zur Friedensaktion waren virtuell bzw. in Präsenz zwei Vertreter der ukrainischen Literaturszene zu Gast: der Schriftsteller Juri Andruchowytsch sowie Olexandr Affonin, Präsident des ukrainischen Buchhändler- und Verlegerverbandes, der auf der Flucht vor dem Krieg in der Ukraine derzeit in Deutschland ist. Er bedankte sich für die Unterstützung, die die ukrainischen Flüchtlinge in Deutschland erhielten und forderte die Anwesenden inklusive dem Oberbürgermeister der Stadt Leipzig, Burkhard Jung, auf, Einfluss auf die Politik zu nehmen. „Gebt uns Waffen!“, forderte er eindringlich.
Juri Andruchowytsch: Keine Angst, bitte keine Angst
Mit einer Videobotschaft aus seiner west-ukrainischen Heimatstadt Iwano-Frankiwsk wandte sich Juri Andruchowytsch an die Gäste vor der Nikolaikirche in Leipzig. Der Schriftsteller, Dichter und Essayist erhielt 2006 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung und gratulierte zunächst dem diesjährigen Preisträger Karl-Markus Gauß, den er seit 26 Jahren gut kenne. Im Anschluss sendete Juri Andruchowytsch einen eindrücklichen Appell zur Furchtlosigkeit an Politik und Gesellschaft: „Europa hat sich für die Ukraine heutzutage endlich geöffnet. Jedenfalls an den Grenzen für Flüchtlinge, zumindest das bisher. Aber die massenhaften blau-gelben Dekorationen genügen uns nicht mehr. Die totalen Stürme von Begeisterung und Empathie, das betäubende Klatschen im Stehen und die Kundgebungen. Das ist alles rührend und wunderbar, aber es genügt uns nicht. Bei uns sterben Leute, sterben Kinder, ihre Mütter, Väter, alte Leute und junge Leute. Die friedliche Bevölkerung unseres Landes befindet sich heute im Zentrum der Hölle. Das ist das größte Kriegsverbrechen aller Zeiten und wir sind im Zentrum von diesem Verbrechen. Unser Land stirbt. Seine Städte, Brücken, Gebäude, Flughäfen, Kulturdenkmäler. Also jetzt ist viel mehr gefordert, als für uns zu beten und zu weinen. Nicht nur Güte und Gastfreundschaft, nicht nur Wärme und unterstützende Worte, sondern auch Ihre furchtlose Tat. ‚Furchtlosigkeit‘ ist das Stichwort. Keine Angst, bitte keine Angst. Fürchten Sie sich nicht, seien Sie tapfer gegen diese Gefahr. Das ist hier eine Gefahr für uns alle, das ist eine gemeinsame Gefahr. Es ist die höchste Zeit, nicht mal für die klare europäische Perspektive, sondern für die vollwertige Mitgliedschaft der Ukraine in der EU. Sie brauchen uns, um viel größer, mutiger und stärker zu sein.“